Für viele Freimaurer sind Rituale heute endgültig. Man hat den Eindruck, dass jede Ergänzung bestenfalls überflüssig, schlimmstenfalls sakrilegisch wäre.
Die Geschichte der Freimaurerei zeigt jedoch, dass dies offensichtlich nicht immer so war.
Ein Freimaurer von heute, der an einer Versammlung im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts teilnähme, wäre in vielerlei Hinsicht sehr erstaunt. Er wäre überrascht, dass es den Meistergrad, der erst ab 1730 belegt ist, noch nicht gab. Er wäre verwirrt über die Kürze der Rituale des 1. und 2. Grades, die nicht länger als etwa zwanzig Minuten dauerten. Er würde den symbolischen Korpus im Vergleich zu dem ihm vertrauten als äußerst reduziert empfinden. Er würde sich fragen, warum ein Symbol des 2. Grades heute im 1. Grad und ein anderes des 3. Grades heute im 2. Grad vorkommt. Er wäre auch erstaunt über die Häufigkeit der Zusammenkünfte im Laufe eines Jahres. Schließlich würde er sich fragen, warum in der Loge keine Tafeln präsentiert werden, auch wenn dies in den angelsächsischen Riten noch heute der Fall ist.
Die Freimaurerei ist nicht statisch. Nicht mehr als die bildende Kunst oder die Musik und erst recht nicht mehr als der Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Sie entwickelt sich nicht kontinuierlich, sondern in Stufen.
Eine Entwicklung kann durch Vereinfachung erfolgen. So können im religiösen Bereich die aus der Reformation hervorgegangenen Kulte als Ergebnis einer relativen Vereinfachung gegenüber der römisch-katholischen Messe oder der göttlichen Liturgie der orthodoxen Kirchen betrachtet werden. Sie kann sich auch durch eine zunehmende Komplexität auszeichnen. Und genau diese zunehmende Komplexität kennzeichnet die Geschichte der freimaurerischen Riten.
So haben sich die Rituale im Laufe der Zeit sowohl inhaltlich als auch durch die Hinzufügung von Symbolen erheblich erweitert. Einige haben sich gewandelt, so wurde beispielsweise die Vorbereitungskammer zum Besinnungsraum und die Umrundung des Profanen wird als Integration von Bezügen zu den Elementen der Tetrasomia von Empedokles von Agrigent für den französischen Ritus und den Alten und Angenommenen Schottischen Ritus oder zu den spirituellen Prinzipien von Matinès de Pasqually für den Rectified Scottish Rite interpretiert.
Neben dem Konzept der ständigen Komplexifizierung manifestiert sich die Entwicklung der freimaurerischen Symbolik manchmal auch in einer veränderten Bedeutung eines Symbols. So tauchte in mehreren Riten das Konzept der kleinen und großen Lichter auf (Weisheit, Kraft und Schönheit für die kleinen, das Buch der Heiligen Gesetze, Winkel und Zirkel für die großen), während die ursprüngliche Freimaurerei nur drei Lichter kannte: die Sonne, den Mond und den Meister der Loge), wobei die Bibel nur für die Vereidigung in der Loge vorhanden war und daher weder zu den großen noch zu den kleinen „Lichtern“ gehörte.
Hinzu kommt, dass die Freimaurerei im 19. Jahrhundert stark von der Alchemie geprägt war, wie in einigen Riten die Hinzufügung der Ideogramme für das Einzige, Schwefel und Quecksilber sowie das Akronym VITRIOL im Reflexionsraum bezeugen.
Schließlich darf im Zusammenhang mit der zunehmenden Komplexität der freimaurerischen Symbolik auch der Hinweis auf die Vielzahl der Grade über den 3. Grad hinaus, die gemeinhin als „hohe Grade“ oder „Seitengrade“ (side degrees)bezeichnet werden, nicht fehlen. Viele von ihnen beziehen sich auf esoterische Strömungen, die in der ursprünglichen freimaurerischen Symbolik völlig unbekannt waren.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Freimaurerei im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat und sich von Anfang an für eine Symbolik entschieden hat, die aus der Baukunst stammt. Erst im Laufe der Jahrzehnte wurden Referenzen ganz anderer Art aufgrund bestimmter Parallelen oder vermeintlicher Konvergenzen aufgenommen.
Letztendlich stellt sich jedoch die Frage, ob sich ein Freimaurer aus der Zeit von Anderson und Désaguliers in einer Loge des 21. Jahrhunderts wohlfühlen würde und ob umgekehrt ein Freimaurer von heute in einer Loge von 1723 auf seine Kosten käme.
JH